Bent Melchior wurde 1929 als Sohn dänischer Juden in Beuthen in Deutschland geboren (heute Bytom, Polen). Sein Vater Marcus war dort Rabbi. 1933 zog die Familie zurück nach Dänemark...

Bent
Melchior

Schritt 6 - Polarisierung

Bent Melchior wurde 1929 als Sohn dänischer Juden in Beuthen in Deutschland geboren (heute Bytom, Polen). Sein Vater Marcus war dort Rabbi. 1933 zog die Familie zurück nach Dänemark...

Bent Melchior

Bent Melchior wurde 1929 als Sohn dänischer Juden in Beuthen in Deutschland geboren (heute Bytom, Polen). Sein Vater Marcus war dort Rabbi. 1933 zog die Familie zurück nach Dänemark. Während der deutschen Besatzung des Landes 1943 spielte Bents Vater, Rabbi Marcus Melchior, eine Schlüsselrolle bei der Rettung der dänischen Juden und Jüdinnen. Im selben Jahr floh die Familie mit Hilfe vieler nichtjüdischer Dän*innen aus Kopenhagen und gelangte nach einer gefährlichen Seefahrt nach Schweden, wo sie bis zur Befreiung Dänemarks 1945 als Geflüchtete lebten.

Bent Melchior erhielt seine Doktorwürde an der Universität Kopenhagen im Alter von 21 Jahren. Eine Zeitlang arbeitete er als Lehrer, dann schloss er in London seine Lehre zum Rabbi ab. Nach dem Tod seines Vaters 1969 wurde er sein Nachfolger als Oberrabbiner Dänemarks. Diese Position hatte er bis 1996 inne.

Bent war ein Menschenrechtsaktivist, begnadeter Redner und Publizist, bekannt in der jüdischen Community und den dänischen Medien. 2008 wurde er das erste und einzige Ehrenmitglied des Dänischen Flüchtlingsrats. Von 1971 bis 1984 war er zudem außerordentlicher Professor für klassische hebräische Literatur an der Universität Kopenhagen. Außerdem war er Vorsitzender des B’nai B’rith Europe in den Jahren 1993-1999 und Vorstandsvorsitzender des Dialogzentrums Brobyggerne („Brückenbauer“), das er zusammen mit der ehemaligen dänischen Abgeordneten Özlem Cekic gründete. Bent Melchior hat unzählige Bücher und Artikel über Religionsfragen, den Judaismus und Geflüchtete geschrieben. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahre 2021 glühender Verfechter der Rechte von Geflüchteten in Dänemark. Sein Sohn Michael war Oberrabbiner von Norwegen und sein Enkel Jair ist der aktuelle Oberrabbiner von Dänemark.

Voices in the Void @Humanity in Action
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German troops parade in Copenhagen, Denmark on April 20, 1940, to celebrate Hitler’s birthday.
German troops parade in Copenhagen, Denmark on April 20, 1940, to celebrate Hitler’s birthday.
Source: AP, https://time.com/4026472/rosh-hashanah-world-war-ii-denmark/
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Rabbi Bent Melchior as a teenager and shortly before passing away
Rabbi Bent Melchior as a teenager and shortly before passing away
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Rabbi Bent Melchior @Humanity in Action
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Rabbi Marcus Melchior, Bent's father, was a Danish Rabbi who warned his congregants that the Germans intended to round up Denmark's Jews.
Rabbi Marcus Melchior, Bent's father, was a Danish Rabbi who warned his congregants that the Germans intended to round up Denmark's Jews.
Voices in the Void @Humanity in Action
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Polarisierung

In dieser Phase differenzieren sich die Haltungen der Angehörigen bestimmter Gruppen gegenüber bestimmten Problemen. Die Extremisten spalten die Gesellschaft durch Hasspropaganda. Dadurch entstehen in der Regel zwei Partien – eine ist für die genannte Lösung eines gesellschaftlichen Problems, die andere dagegen. Die Polarisierung schürt oft gesellschaftliche Konflikte und lässt sie mit der Zeit eskalieren. Der Völkermord kann am ehesten von den Mitgliedern der Tätergruppe aufgehalten werden, die gemäßigte Ansichten haben. Deshalb werden gerade sie oft als Erste verhaftet und ermordet. Die dominante Gruppe beansprucht uneingeschränkte Macht für sich. Ausnahmezustände werden eingeführt, Dekrete erlassen, Bürgerrechte und Freiheiten eingeschränkt. Die Opfergruppe wird demilitarisiert, damit sie sich nicht wehren kann. So ergreift die dominante Gruppe die volle Kontrolle.
Um Polarisierung zu verhindern, müssen Menschenrechtsorganisationen und -initiativen unterstützt werden und internationale Sanktionen verhängt werden.


Wie hängt diese Geschichte mit den Phasen des Völkermordes zusammen?

Die Geschichte von Bent Melchior zeigt eindrücklich die Gefahren der Polarisierung. In dieser Phase wird die Gesellschaft in zwei gegensätzliche Gruppen aufgeteilt: „wir“ und „sie“, „die Anderen“, z. B. Dän*innen versus Juden und Jüdinnen. Der mutige Widerstand von vielen gewöhnlichen dänischen Bürger*innen ist ein gutes Beispiel, wie Menschen sich dieser künstlichen Aufteilung widersetzten. Die dänischen Juden und Jüdinnen waren sehr gut in die Gesellschaft integriert und hatten gute Beziehungen zu der Mehrheitsgesellschaft. Diese guten Kontakte basierten auf gemeinsamen demokratischen und fortschrittlichen Werten, die das Bildungssystem und die Politik des Landes ihnen seit Jahren einimpften, und vielen Jahrzehnten gemeinsamer Erfahrungen. Zudem verfügte Dänemark über ein besonders inklusives gesellschaftliches System, das nach dem Ersten Weltkrieg implementiert wurde. Dieses System ermöglichte es, Klassenkonflikte zu mildern und die jüdische Gemeinschaft zu integrieren und zu assimilieren. So war die Aufteilung in „wir“ und „sie“ gar nicht erst möglich.

Der Zeichentrickfilm „Voices in the Void“ zeigt die Geschichte der Familie Melchior im Zweiten Weltkrieg im besetzten Dänemark sowie ihre Flucht nach Schweden mit der Hilfe ihrer dänischen Mitbürger*innen, insbesondere von Geistlichen und Fischern. Der Erzähler ist Bent selbst, der zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt war. Trotz aller Gefahren weigerten sich tausende Dän*innen, ihre jüdischen Nachbar*innen aufzugeben. Später sagten viele von ihnen aus, dass sie sich nicht als Held*innen sahen, sondern einfach nur als normale Menschen, die das Richtige tun.

Das Ausnahmeland Dänemark

Als Dänemark im April 1940 in den Krieg reingezogen wurde, war es darauf vorbereitet, besiegt zu werden. Die dänische Armee leistete kaum Widerstand. Der Krieg war in 16 Stunden vorbei. Die Regierung kapitulierte ohne größere Schäden. Dänemark begann, zu kooperieren – als „arisches“ Land war es dem Rassenhass der Nazis nicht ausgesetzt. Der König flüchtete nicht und sprach sich auch nicht explizit gegen die Besatzung aus. Die dänische Regierung arbeitete wie gewohnt weiter unter lediglich leichter Kontrolle seitens der Deutschen. Weder der König noch die Regierung unterstützten die Sabotageaktionen der kleinen, wenig aussichtsreichen Widerstandsbewegungen, im Gegenteil – sie lehnten sie ab und distanzierten sich davon.
Doch in einem Fall drohten die Dän*innen – der König, die Beamten und die Bevölkerung – mit einem heftigen Widerstand: Falls die dänischen Juden und Jüdinnen isoliert oder verfolgt werden sollten. Diese Bedingung wurde zunächst erfüllt. Von 1940 bis 1943 lebten die jüdischen Bürger*innen Dänemarks genauso unbehelligt wie ihre christlichen Nachbar*innen. Das schreckliche Schicksal der anderen europäischen Juden und Jüdinnen blieb ihnen erspart.

Der Wendepunkt für die dänische jüdische Gemeinde war der Sommer 1943, als die deutschen Behörden verlangten, dass die dänische Regierung ihre Landsleute exekutiert, die im Widerstand aktiv waren. Die Dän*innen würden aber niemals den eigenen Leuten den Rücken kehren – außer den Kommunisten. Daher trat die gesamte dänische Regierung zurück und überließ den Deutschen die Macht. Darauf wandte sich die ganze Nation im August und September dem Widerstand zu und unterstützte ihn im ganzen Land. Die Deutschen gaben also das Konzept des „Musterprotektorats“ auf, übernahmen die Staatsmacht und machten sich bereit, alle jüdischen Bürger*innen festzunehmen.

Am 29. September, zwei Tage vor der geplanten Razzia an Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, flehte der Oberrabbiner der Krystalgade-Synagoge, Marcus Melchior, seine erstaunte Gemeinde an, sofort unterzutauchen. Im Kopenhagener Hafen standen schon zwei Passagierschiffe bereit, um ca. 5000 Juden und Jüdinnen nach Deutschland zu bringen, von wo aus sie nach Theresienstadt deportiert werden sollten. Die übrigen 2000 sollten in Bussen dorthin gebracht werden. Plötzlich mussten die dänischen Juden und Jüdinnen, die überhaupt nicht auf eine Razzia vorbereitet waren, fliehen. Sie mussten innerhalb weniger Stunden Entscheidungen treffen: Wie sicher war es, mit Babys und Kleinkindern zu fliehen? Wem konnten sie unterwegs vertrauen?

Zum Glück waren die nichtjüdischen Dän*innen bereit, diese Risiken zusammen mit ihren jüdischen Nachbar*innen auf sich zu nehmen. Geistliche, Beamte, Ärzt*innen, Krankenpfleger*innen, Student*innen, Kaufleute, Landwirt*innen, Fischer*innen und Lehrer*innen im ganzen Land, aus allen Schichten der Gesellschaft, hielten zusammen, um die Juden und Jüdinnen zu beschützen. Sie wurden zunächst in Krankenhäusern, Kirchen, Schulen und Privathäusern versteckt, dann von ihren Landsleuten durch Städte, Dörfer, Wälder und Bahnhöfe gelotst, bis sie in kleinen Hafenstädten ankamen, wo Fischerboote auf sie warteten. Spenden wurden gesammelt, um die Fischer*innen zu bezahlen, die ihre Boote und ihr Leben aufs Spiel setzten, um den Deutschen Widerstand zu leisten. In der Nacht wurden die Juden und Jüdinnen in den Booten versteckt und ins sichere Schweden rübergeschifft. Über diesen ungewöhnlichen Weg wurden innerhalb von wenigen Wochen 7056 Juden und Jüdinnen sowie 686 nichtjüdische Ehepartner*innen in Sicherheit gebracht. 472 jüdische Bürger*innen wurden festgenommen und nach Theresienstadt gebracht, doch die deutschen Befehlshaber in Dänemark sagten zu, sie nicht in die Vernichtungslager im Osten zu schicken. Dänische Beamte und Nichtregierungsorganisationen sorgten dafür, dass ihre Mitbürger*innen im Lager überleben konnten, indem sie ihnen Lebensmittel, Vitamine und Kleider zuschickten.
Von allen vormals demokratischen und nunmehr besetzten Ländern Europas war Dänemark das einzige, dessen jüdische Gemeinde der Vernichtung entgangen war. 99% der jüdischen Bevölkerung überlebte den Krieg. 6500 Juden und Jüdinnen, die sich nach der Flucht aus Dänemark 1943 in Schweden versteckten, kehrten zweieinhalb Jahre später nach Hause zurück und fanden die allermeisten Häuser und Geschäfte völlig intakt vor. Wie es Rabbi Bent Melchior, der ehemalige Oberrabbiner Dänemarks einst sagte, war es für Juden und Jüdinnen nicht ungewöhnlich, ihre Häuser verlassen zu müssen – meistens wurde ihnen dabei von ihren Nachbar*innen eifrig „geholfen“. Dass sie aber von ihren Landsleuten mit offenen Armen willkommen geheißen wurden, war etwas Einzigartiges.

Doch was machte Dänemark so besonders unter den besetzten Ländern Europas? Die dänische Bevölkerung war sehr frustriert darüber, dass sie die Rolle des „Musterprotektorats“ für die Deutschen spielen sollte. Ihre fortschrittlichen, demokratischen Werte umfassten sowohl individuelle, als auch kollektive Verantwortung. Diese Haltung ergab sich aus dem dänischen Protestantismus, der sowohl in der Bildung, als auch in der Politik des Landes sehr präsent war. Zudem verfügte Dänemark über ein besonders inklusives gesellschaftliches System, das nach dem Ersten Weltkrieg implementiert wurde. Dieses System ermöglichte es, Klassenkonflikte zu mildern und die kleine jüdische Gemeinschaft dauerhaft zu integrieren und zu assimilieren. Die unermüdlichen Aktivitäten der kleinen, aber hartnäckigen dänischen Widerstandsbewegung wurden ab 1943 immer kühner und ärgerten die deutschen Behörden unheimlich. Doch die deutsche Führung in Dänemark war zerstritten und so versäumte sie die Möglichkeit, eine Razzia zu organisieren und ließ stattdessen tausende Juden und Jüdinnen entkommen. Letztendlich trug zu der Rettung auch die Nähe des neutralen Schweden bei, das sich 1943 bereit erklärte, tausende jüdische Geflüchtete und dänische Aufständische auf der Flucht vor den Deutschen bei sich aufzunehmen.

Die dänischen Retter*innen haben eine ganz besondere Rolle in der „Wiederherstellung der Menschlichkeit Europas“ gespielt. Sie haben gezeigt, was Empathie bedeutet, und sich gegen Gleichgültigkeit gestellt. Die Geschichte Dänemarks ist die Geschichte von Widerstandskämpfer*innen und Überlebenden – die Geschichte des gemeinsamen Kampfes einer ganzen Nation für eine schutzlose, in die Enge getriebene Minderheit.